"Woher weißt Du das eigentlich alles?", fragt mich Jule in einem Gespräch. Ich bin kurz total verblüfft. Wissen wir das nicht alle? Also wer was macht, welche kreativen Prozesse gerade laufen, wieviel Geld da ist, wann die Deadlines der Förderausschreibungen sind, welche neuen Partner:innen wir kennengelernt haben, wer uns Feedback zum Kartenspiel geschickt hat, welche Aufträge wir gerade insgesamt haben, wie wir die Komplexität der Plattform noch weiter reduzieren können, wer gerade krank war... Spontan antworte ich:"weil es mich interessiert", einen Moment später dann "weil ich nachfrage."
Dieses kleine Gespräch, an das sich Jule wahrscheinlich gar nicht mehr erinnern kann, bewegt sich noch sehr lange in mir. Bin ich einfach unglaublich neugierig? Zu neugierig? Ich weiß von mir, dass ich tiefes Verstehen brauche, um mich sicher zu fühlen. Die Selbstorganisation funktioniert, weil wir uns gegenseitig konstant beraten und unterstützen - wie soll ich das denn im Sinne der Organisation tun, wenn ich nicht einen guten Überblick habe? Wir haben uns versprochen, nicht in unsere Rollen wie in abgetrennte Abteilungen abzutauchen, sondern unsere Rollen immer wieder an das anzupassen, das die Organisation als Ganzes benötigt. Wir brauchen also weit mehr Informationen als das, was uns im Arbeitsalltag so ganz direkt betrifft.
Tiefes Verstehen ist für mich ein ganz körperlicher Prozess, der sich vom Kopf aus nach und nach ausweitet.
Erst will ich es verstehen, ich brauche Informationen, gerne viele. Dann entwickelt sich nach und nach eine verbindende Emotion, ich bin plötzlich in der Lage, die Working Evolutions auch zu spüren. Und dann füllt sich nach und nach der Körper und ich kann genau überprüfen, ob alles zusammenpasst oder etwas wackelt. Der Prozess geht auch andersherum... ich spüre eine Instabilität oder Spannung in meinem Körper, mache mich auf die Suche nach dem Gefühl und hole mir dann alle Infos, um zu verstehen. Ich würde also tatsächlich körperlich leiden, wenn ich den Überblick nicht hätte.
Diese körperliche Notwendigkeit, den Überblick zu haben, teilen aber offenbar nicht alle Menschen mit mir.
Andere fühlen sich sogar sicherer, wenn sie sich eine ganze Weile auf eine Sache konzentrieren und die Komplexität des Ganzen ignorieren können. Vor kurzem hatten wir sogar die lustige Situation, dass wir plötzlich festgestellt haben, dass die Personen, die einen Auftrag bearbeitet haben, gar nicht wussten, dass es einer ist. Sie sind davon ausgegangen, dass es einer der schönen Dinge ist, die wir aus eigenem Engagement heraus machen. Das ist in unserem Fall nicht schlimm, wir haben dieselbe Leidenschaft für unsere Aufträge und unsere eigenen Projekte. Und doch ist es für mich körperlich ganz unvorstellbar, an etwas zu arbeiten und nicht so lange nachzufragen, bis ich den Kontext tief verstanden habe.
Eine schöne Herausforderung: wie stellen wir sicher, dass alle den Überblick haben und doch niemand von der hohen Komplexität des Überblicks gelähmt wird? Wie stellen wir das Gleichtgewicht aus individueller Arbeitsfähigkeit (nicht überfordert) und organisationaler Arbeitsfähigkeit (Kontexte exzellent einordnen können) her?
Noch habe ich keine Antwort, aber den vagen Verdacht, dass wir Menschen, die ganz intrinsisch nach Überblick streben, eine wichtige Rolle haben und diejenigen, die sich eher durch Vernunft dazu zwingen müssen, in einem ersten Schritt das Maß der aktiv gestellten Fragen erhöhen.
Wir halten Euch auf dem Laufenden - und freuen uns auch über kleine Hinweise.
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