Wenn wir von unserem Entscheidungsmodus "beratene Entscheidung" erzählen, vermuten die Menschen immer sehr viel Anstrengung und Konfliktpotential. Doch wie so oft bei New Work liegen die Probleme gar nicht an der Stelle, wo man sie aus einem alten Arbeitsverständnis heraus vermutet.
Die beratene Entscheidung funktioniert so: wir arbeiten mit einer klaren Rollenverteilung. Jede:r von uns hat sich die Aufgabengebiete herausgesucht, die nach eigener Meinung die Organisation am meisten braucht und für die ich am besten geeignet bin. Und innerhalb dieser Rollen dürfen - und müssen - wir auch alle Entscheidungen treffen, selbst, allein. Allerdings müssen wir uns erst von den Personen beraten lassen, die von der Entscheidung betroffen sind und ggfs. von Expert:innen, falls unser eigenen Know-How nicht ausreicht. Der Deal für die anderen ist: wenn ich gehört wurde (also wirklich gehört, keine Schein-Beratungen), dann unterstütze ich Deine Entscheidung, auch wenn Du das Gegenteil von meiner Beratung beschließt. Das ist die Stelle, an der Menschen Probleme vermuten, das ist aber im Alltag eher angenehmen als anstrengend, entlastend, weil ich loslassen und mich um meine Dinge kümmern kann.
Es gibt noch eine andere Stelle, an der wir die Anstrengung vermuteten: wenn die Beratungen in vollständig verschiedene Richtungen ausfallen, sich keinerlei Muster der Einigkeit erkennen lässt. Das passiert jedoch in letzter Zeit immer öfter. Und, oh Wunder, auch hier ist die Erfahrung so anders als die Theorie: es ist wunderbar (Wie sich das z.B. zum Thema Corona anfühlt, könnt Ihr hier lesen).
Am Anfang tauchen noch ein paar seltsame Gefühle auf: Orientierungslosigkeit, da ja ohne Leitungsentscheidungen die Entscheidung doch irgendwie im Team vermutet wird; Verlustangst, dass die anderen einen dann vielleicht nicht mehr mögen; sogar ein wenig Trotz, à la "Pech, wenn Euch das nicht gefällt, ich habe ja die Macht".
Doch auf der anderen Seite der anfänglichen Irritationen wartet die Freiheit: die Freiheit, eine wirklich gute Entscheidung zu treffen.
Ein Aspekt ist der Verlust der Gruppenorientierung. Nicht selten sind wir in Gefahr, nicht die best mögliche Entscheidung für die Organisation zu suchen, sondern die Entscheidung, die die meisten Menschen unkompliziert glücklich machen. Ist diese Versuchung einmal weg, weil einfach deutlich geworden ist, dass ein Konsens nur mit viel Mühe herzustellen wäre, öffnet sich eine neue Pforte: wenn ich schon keine Entscheidung treffen kann, die alle glücklich macht, kann ich mich vollständnis darauf konzentrieren, die best mögliche Entscheidung zu finden. Es gibt ja einen Grund, warum ich in meinen Rollen entscheide: hier habe ich die größte Expertise. Und die scheint erst so richtig scheinen zu können, wenn der Konsens vom Tisch ist.
Ein anderer Aspekt ist, dass eine große Bandbreite an Beratungen die Perspektiven erhöht. Ich lerne weit mehr über was alles noch beachtet werden könnte, als wenn sich alle einig sind. Der Entscheidungsraum wird größer, die Kreativität wird angeregt und ich beginne automatisch, vernetzt zu denken. Je diverser die Beratung ist, je größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich vieles mitbedenke. Es hilft mir, mich wirklich an die Komplexität heranzuwagen.
Macht uns also Uneinigkeit das Leben schwer? Wenn schwer bedeutet, das ich mehr nachdenken und -spüren muss, dann ja. Wenn schwer aber bedeutet, dass mittelmäßige Entscheidungen getroffen werden, dann nein. Dann macht Uneinigkeit unser Leben leichter, kreativer und nachhaltiger.
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